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„Wrongful birth“ und „wrongful conception“: haftungsrechtlich gleichgeschaltet

Viele Jahre lang machte es haftungsrechtlich einen Unterschied, ob ein Arzt dafür haftete, wenn er einen Fehler machte und dadurch ein unerwünschtes Kind zur Welt kam und dieses Kind entweder gesund war („wrongful conception“) oder eine Behinderung aufwies („wrongful birth“).

Autor:
Dr. Michael Straub, LL.M.,Rechtsanwalt im Gesundheitswesen mit Schwerpunkt, Medizin-, Krankenanstalten- und Gesellschaftsrecht, straub@~@enlawment.at, www.enlawment.at

Die langjährige Ansicht des OGH war, dass ein gesundes Kind kein „Schaden“ sei. Bei der Geburt eines unerwünschten, aber gesunden Kindes stehe daher kein Schadenersatz zu. Das könnte sich in Zukunft ändern.

Keine Sonderbestimmungen

Im österreichischen Recht existieren keine Sonderbestimmungen für die zivilrechtliche Haftung aus medizinischen Behandlungen. Somit wird nach dem allgemeinen Schadenersatzrecht vorgegangen. Eine Haftung gegenüber einem Patienten oder einer Patientin kann daher aus einer Vertragspflichtverletzung (Vertragshaftung) oder aus der Verletzung eines Schutzgesetzes erfolgen, dessen Einhaltung jedermann trifft (Deliktshaftung). Für eine Haftung aus der Geburt eines unerwünschten gesunden oder behinderten Kindes wird in aller Regel eine Vertragshaftung, und zwar aus dem Behandlungsvertrag, einschlägig sein.

Wer aus dem Behandlungsvertrag gegenüber Patienten haftet, hängt davon ab, mit wem der Patient einen Behandlungsvertrag abgeschlossen hat. Ein niedergelassener Arzt haftet selbst aus dem Behandlungsvertrag, wobei ihm das Verhalten seiner Hilfspersonen zuzurechnen ist. Bei Krankenanstalten haftet grundsätzlich deren Träger, wobei diesen auch wiederum das Verhalten ihrer Hilfspersonen zuzurechnen ist.

Voraussetzung: Schaden

Eine Haftung setzt einen Schaden voraus, der durch rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten verursacht wurde. Ein Schaden ist jeder Nachteil, der jemandem an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefügt wird (positiver Schaden). Bei medizinischen Behandlungen sind zwar Verletzungen am Körper oder der Tod samt ihren Folgeschäden einschlägig. Mit der Geburt eines unerwünschten Kindes entsteht den Eltern mitunter aber ein nicht unerheblicher finanzieller Aufwand, für den nun eine Haftung aufgrund einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung drohen könnte, und zwar unabhängig davon, ob das unerwünschte Kind gesund oder mit einer Behinderung zur Welt kommt.

Grundsätzlich trifft den Geschädigten die Beweislast für das Vorliegen bestimmter Haftungsvoraussetzungen, insbesondere für den Schaden und das Verschulden des Schädigers. Bei vertraglichen Haftungsansprüchen hingegen – und somit auch beim Behandlungsvertrag – greift eine sogenannte Beweislastumkehr. Das heißt, dass der Schädiger beweisen muss, dass ihn kein Verschulden trifft.

Bei Behandlungsfehlern gilt zusätzlich hinsichtlich der Haftungsvoraussetzung der Kausalität eine Beweiserleichterung zugunsten des Geschädigten, weil der Nachweis der Verursachung oft schwer zu erbringen ist. Steht daher ein Behandlungsfehler fest – was vom Geschädigten zu beweisen ist –, gilt die Verursachung durch den Schädiger als angenommen.

Bisherige Rechtsprechung des OGH

In einer Entscheidung im Jahr 1999 hatte sich der Oberste Gerichtshof erstmals mit der Frage der Haftung eines Arztes für die Folgen der Geburt eines schwer behinderten Kindes zu befassen, dessen Eltern sich für eine Abtreibung entschieden hätten, wenn der Arzt lege artis vorgegangen wäre, indem er sie rechtzeitig über die Behinderung des Fötus informiert hätte. Dabei hat der OGH eine Haftung für die Folgen der Nichterkennung der Behinderung, und zwar den durch die Behinderung verursachten Mehraufwand, anerkannt.

Hingegen lehnte der Oberste Gerichtshof in seiner erstmaligen Entscheidung zu „wrongful conception“ in 2006 eine Haftung des Arztes ab, der beim Vater nach der Geburt des dritten Kindes eine Vasektomie durchgeführt hatte, der aber dennoch Vater eines weiteren (gesunden) Kindes wurde. Nach Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung in Deutschland und anderen europäischen Staaten und den uneinheitlichen Lehrmeinungen sah der OGH damals keine Veranlassung, von seiner bisherigen Rechtsansicht abzugehen, wonach die Geburt eines gesunden, wenn auch unerwünschten Kindes keinen Schaden im Rechtssinn bedeute.

An dieser Rechtsansicht und damit an dieser Praxis, bei der Geburt eines unerwünschten gesunden Kindes keinen Schadenersatz zuzusprechen, sondern allenfalls nur bei einem unerwünschten und mit einer Behinderung geborenen Kindes, hielt der OGH bis zu seiner jüngsten Entscheidung fest.

Neue Rechtsprechung des OGH

Der OGH hat in seiner Entscheidung vom 21.11.2023 zu GZ  3Ob9/23d vor allem aufgrund der (ebenso) langjährigen Kritik der Rechtslehre an der bisherigen Rechtsprechung des OGH attestiert, dass zwar „wrongful birth“ und „wrongful conception“ immer noch als zwei nicht vergleichbare Fallgruppen gelten und es sich damit um unterschiedliche, nicht vergleichbare Sachverhalte handle, weshalb bisher auch keine widersprüchliche Rechtsprechung vorliege. Da die bisherige Auffassung des OGH jedoch im Schrifttum vielfach auf Kritik stieß, sah sich der OGH veranlasst, seine diesbezügliche Linie aufzugeben.

Aus schadenersatzrechtlicher Sicht seien beide Sachverhalte im Ansatz nunmehr notwendigerweise gleich zu beurteilen. Die bisherige Rechtsprechung zu Fällen von „wrongful conception“ sei davon ausgegangen, dass die Geburt eines gesunden (wenn auch nicht gewollten) Kindes keinen Schaden im Rechtssinn darstellen könne. Diese Ansicht sei im Lichte des im österreichischen Recht verankerten, denkbar weiten Schadensbegriffs nicht mehr aufrecht zu halten. Demnach sei ein Schaden auch die Verminderung von Aktiv- oder Vermehrung von Passivposten in einem rechnerischen Vergleich der durch das schädigende Ereignis eingetretenen Vermögenslage mit jener, die sich ohne das Ereignis ergeben hätte. Damit sei auch jeder zusätzliche Aufwand oder jede zusätzliche Belastung als Schaden begriffen. Dass auch der Unterhaltsaufwand für ein nicht gewolltes Kind einen Schaden darstellt, sei daher zwingend, nunmehr offenbar unabhängig davon, ob das Kind gesund oder mit einer Behinderung zur Welt kommt.

Im Ergebnis hielt der OGH daher fest: Sowohl bei einem medizinischen Eingriff, der die Empfängnisverhütung bezweckt (z. B. Vasektomie oder Eileiterunterbindung), als auch bei der Pränataldiagnostik sind die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) an der Verhinderung der Empfängnis bzw. – bei Vorliegen der embryopathischen Indikation – der Geburt eines (weiteren) Kindes vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst. Wird daher ein Kind bei nicht fachgerechtem Vorgehen bzw. nicht ordnungsgemäßer Aufklärung der Mutter (der Eltern) empfangen bzw. geboren, haftet der Arzt unabhängig von einer allfälligen Behinderung des Kindes insbesondere für den von den Eltern für das Kind zu tragenden Unterhaltsaufwand, wenn die Empfängnis bzw. die Geburt ansonsten – etwa durch einen zulässigen Schwangerschaftsabbruch – unterblieben wäre.

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© Istockphoto/Marilyn Nieves
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Dr. Michael Straub, LL.M.© ZVG