AUTOR: DI Christoph Holz, Informatiker, Digitalisierungs-experte, Keynote-Speaker und Angel Investor, www.christophholz.com
Seit 20 Jahren ist der chirurgische Roboter Da Vinci bei vielen minimalinvasiven Operationen nicht mehr wegzudenken. Er sieht wie eine riesige Spinne aus. Man sollte dieses Gerät aber nicht überschätzen. Derzeit ist der Roboter nur eine Verlängerung für die Arme der Operierenden. Er eliminiert den Tremor von Chirurgen – nicht ganz unwichtig, wenn man bedenkt, wie nah er an die wichtigen Dinge da unten kommt. Da Vinci und seine Geschwister lernen schnell. Andere Operationsroboter können bereits Wunden nähen, und mehr als 150 Hersteller forschen und entwickeln in diesem Bereich. Angesichts des Mangels an Personal und der Explosion der medizinischen Kosten wartet hier ein gigantischer Markt. Obwohl Roboter heute eher an ein teures Spielzeug erinnern, werden sie bald jeden Menschen mit ihren Fähigkeiten übertreffen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Und das ist auch gut so – insbesondere für Chirurgen.
Chirurgie als unmenschliche Herausforderung
Stundenlang mit unzumutbarer Körperhaltung zu operieren war nie leicht. Heute verrichten Chirurgen nur aus einem Grund diese unmenschlichen Arbeiten: weil Roboter es noch nicht können. Bald werden Operationsroboter unbewusste Lageänderungen oder Atmung der Patienten ausgleichen, während sie in einem CT oder anderem bildgebenden Gerät liegen. Durch das Feedback der bildgebenden Verfahren in Echtzeit werden neue Operationen machbar und vertretbar, die heute unvorstellbar sind. Medizin war früher eine soziale Praxis. Ärzte können sich nun endlich wieder ihrer eigentlichen Berufung zuwenden: der ethischen Beratung und emphatischen Betreuung von Kranken. Auch die kreative Entwicklung neuer Methoden und Techniken bleibt menschlichem Erfindungsreichtum vorbehalten. In keinem Zeitalter haben wir mehr darüber gelernt, was es heißt, ein Mensch zu sein. Digitaler Humanismus ist die Überzeugung: Wenn eine Tätigkeit digitalisiert werden kann, ist sie nicht für Menschen gedacht. Wenn alles Unmenschliche digitalisiert ist, ist das, was übrig bleibt, der Mensch: Ethik, Kreativität und Empathie bleiben für künstliche Intelligenz unerreichbar.
Selbstbestimmtes Altern
Diese Roboter werden in Zukunft nicht nur autonom, sicher und kostengünstig, sondern auch sehr viel kleiner und transportabler. Wenn meine Prostata wirklich einmal raus muss, will ich das bei meiner Hausärztin erledigen. Der selbstfahrende Operationssaal (OP) wird über Nacht im Hinterhof eintreffen. Die minimalinvasive Operation ist nach wenigen Minuten vorbei, und meine Ärztin wird mir die Hand halten. Nach der Operation wird mich der autonome OP nach Hause bringen. Ein Pflegeroboter trägt mich in meine Wohnung und bringt mich ins Bett. Ein paar Tage wird er noch bei mir bleiben. Dann wird er seinem selbstfahrenden OP mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinterher reisen. Aus Solidarität trägt er natürlich eine medizinische Maske. Der OP hat sich zwischenzeitlich sterilisiert und nachgeladen. Wenn ich alt bin, möchte ich von einem Pflegeroboter herumgetragen werden, damit meine Pflegeperson ihren Rücken schont und ich meine Autonomie behalte. Sie soll Zeit haben, mit mir zu reden und mich zu berühren. Der Roboter erfüllt buchstäblich mein Recht darauf, niemanden zur Last fallen zu wollen. Selbstbestimmtes Altern in Würde geht ohne Pflegeroboter nicht.
Krankenhäuser als Überwachungseinrichtung
Moderne Krankenhäuser wurden im 19. Jahrhundert von Florence Nightingale erfunden. Es ging um Überwachung und Hygiene der Patienten — symbolisiert durch Nightingales Lampe, die große Krankenzimmer ausleuchtet. Wie bei einem Panopticon waren die Betten der viktorianischen Krankenhallen um die Überwachungseinheit, den Platz der Aufsichtsschwester, gruppiert. Panopticon ist eine Überwachungsarchitektur des britischen Moralphilosophen und Begründers des klassischen Utilitarismus Jeremy Bentham. Sie kam auch in anderen Einrichtungen zum Einsatz, wo die Insassen nicht wegkönnen – in kubanischen Gefängnissen.
Nightingale hatte die Privatsphäre abgeschafft, bevor dieses Konzept im Jahr 1890 überhaupt erfunden wurde. Aber jetzt bekommen wir die Apple Watch und andere „künstlich intelligente“ Geräte zur eigenverantwortlichen Selbstüberwachung. Mit ein wenig Achtsamkeit ist die Privatsphäre wieder da. Keine Technik schützt unsere Privatsphäre besser als künstliche Intelligenz. Unsere intimsten Körperwerte und Verhaltensdaten werden beim maschinellen Lernen unwiederbringlich in ein neurales Netzwerk codiert und danach verworfen.
Krankenhäuser als Kind des verflossenen Industriezeitalters
Die Evolution hat uns eigene Krankenhauskeime beschert, um die vorhandenen Therapieoptionen zu neutralisieren. An Infektionen mit Enterokokken, Staphylokokken und anderen resistenten Keimen starben allein 2019 laut Schätzung 1,27 Mio. Menschen weltweit. Wie lange können wir eine so unhygienische und vergleichsweise teure Infrastruktur wie Krankenhäuser mit Schadensvermeidung, ökonomischer Gerechtigkeit und anderen medizinisch-ethischen Grundsätzen noch in Einklang bringen? Anstatt Bettenburgen zu bauen, könnten wir dieses Geld besser verwenden, um Heilmittel gegen gefährliche Keime zu finden. Gemäß den Grundsätzen medizinischer Ethik sollten knappe Ressourcen gerecht verteilt werden. Diese Fairness schließt die Bauindustrie nicht mit ein.
Der Medizinethiker Giovanni Maio bezeichnet diese Einrichtungen als Gesundheitsfabriken und Reparaturbetriebe. Checklisten und Stoppuhr-Pflege zwingen Mitarbeiter im Gesundheitswesen, sich schon heute wie Roboter zu benehmen. Vorgangsregeln werden buchstäblich als Algorithmen bezeichnet. In Lateinamerika und Indien oder in Kriegsgebieten sind kleine Operationssäle schon längst auf Lastwagen unterwegs. Das Konzept ist nicht neu. Mobile Krankenhäuser funktionieren dort am besten, wo die meisten Menschen ihren letzten Lebensabschnitt verbringen werden – auf dem Land. Unsere westlichen Krankenhäuser sind nicht nur aufopferungsvolle Gesundheitsdienstleister. Wären Kliniken keine überkommenen Machstrukturen, wäre der Wettbewerb um Führungspositionen nicht so verbittert. Machterhaltung steht der Einführung innovativer Konzepte wie etwa mobiler Lösungen entgegen, die Patienten kostensparend dort versorgen, wo sie leben und sterben möchten.
Gedankenexperimente als Wechsel der Perspektive
Solche philosophischen Gedankenspiele kann man ernst nehmen – muss man aber nicht. Gegenwart kommt immer anders, als man denkt. Zukunft bleibt uneinholbar offen. Gedankenexperimente offenbaren zuerst einmal die Glaubenssätze des Autors und seiner Leser. Sie unterlaufen die gängige Praxis, neuer Technik erst einmal die alten Probleme unserer Gesellschaft in die Schuhe zu schieben. Jenseits unreflektierten Technologie-Pessimismus bieten sie neue Perspektiven und Lösungsansätze. Sie eröffnen Wahlmöglichkeiten, damit die zentrale Frage der Zukunftsethik gestellt werden kann: Wie wollen und sollen wir leben und sterben?